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Erster Mai und ich war am fotografieren.
Gedanke zur Protestfotografie von Florian Bachmann, Zürich 2024


In ganz seltenen Fällen erscheint eine Ausgabe der Wochenzeitung WOZ, für die ich als Fotograf und Bildredakteur arbeite, ohne ein Protestbild oder ein Foto einer Demonstration. Aber kann die Protestfotografie überhaupt als eigenes Genre betrachtet werden? Diese Frage habe ich mir anlässlich der Ausstellung "Lichtblick" im Bellevue - Ort für Fotografie in Basel gestellt und dabei auch meinen eigenen Umgang mit der Protestfotografie reflektiert.

Als Bildredakteur greife ich oft auf Fotos von Menschen mit Transparenten zurück, um politischen Widerstand zu visualisieren. Warum? Weil das Anliegen eines Arti- kels nicht direkt gezeigt werden kann. Zum Beispiel können unhaltbare Arbeitsbedingungen nicht fotografiert werden, aber die Proteste dagegen schon: Das Bild einer übernächtigten Arbeiterin in der Grossmetzgerei, wie sie sich gerade in den Finger schneidet, würde nur durch Zufall gelingen. Zudem wäre es unwahrscheinlich, dass der Betrieb ein solches Bild freigibt. Oder ein Artikel gegen Rechtsextremismus fotografiere ich relativ gefahrlos an der "Nazi-Frei"-Demo, anstatt ein kritisches Bild in der rechten Szene fotografieren zu wollen und ihnen dabei auch noch eine visuelle Plattform biete. Oder der Ruf nach Mitverantwortung für die globale Erderwärmung wird lebendiger illustriert mit einem Bild vom Klimastreik als mit einem Bild trockener Erde im Seeland. Das Protestbild scheint also oft die machbarste Fotografie, um einen Widerstand darzustellen.

Wenn ich selbst an einem Protest fotografiere, dann tue ich dies mehrheitlich (nicht ausschließlich) im Auftrag. Ich nehme in der Rolle als Fotograf zwar am Protest teil, gehöre aber gleichzeitig nicht zur demonstrierenden Masse. Laufe vor und zurück, suche nach einem prägnanten Bild. Ist dieses entstanden, oder flacht die Kundgebung ab, ziehe ich weiter. Meine Perspektive ist dabei nicht die einer aktiven Teilnehmerin. Es ist keine Innensicht: ich war nicht dabei als die Transparente gemalt wurden und übernachtete auch nicht im Protestcamp. Dort, wo ich dieses Muster durchbrochen habe, wie zum Beispiel am G20-Gipfel in Hamburg 2017, sind die entstandenen Bilder für mich bis heute von grösserer Bedeutung.

Eine fotografische Innensicht hat nicht den Anspruch, die möglichst vielseitige Nutzung einer Presseagentur abzudecken, sondern den Blick der Autorin, des Autors zuzulassen. Die Innensicht braucht Zeit und Nähe. Erst wenn ich als Fotograf vergessen gehe, können die abgebildeten Personen entweder nicht mehr auf die Kamera reagieren oder vor der Kamera nur noch sich selbst sein.

In der Ausstellung im Basler Bellevue ist eine Innensicht bei vielen Arbeiten zu sehen. Da sind die Bilder von Kurt Graf, Fotolib aus den siebziger Jahren: Ein Wuschelkopf hält den Lautsprecher eines Megaphons gegen ein altes Gemäuer gerichtet, die kleinen Fenster lassen auf ein Gefängnis vermuten. Der Mann blickt in die Ferne, während der Redner selbst dem Gemäuer zugewandt ist. Links am Bildrand zünden sich zwei Frauen ihre Zigaretten an, am rechten Bildrand blickt eine fünfte Person in die Kamera. Der Inhalt der Kundgebung ist nicht ersichtlich. Aber das Bild überzeugt und macht neugierig, weil die Blicke weiterführen und weil es bis an seine Ränder interessant bleibt, weil es einen Dialog aufbaut. Diesem und weiteren Schwarzweissbilder sind zeitgenössische Arbeiten diverser Fotograf:innen gegenüber gestellt. Wie zum Bespiel die Porträts von Azura
Silberschmidt. Sie hat geflüchtete Menschen, die in Griechenland gestrandet sind, porträtiert. Die direkten Blicke in die Kamera sind berührend. Silberschmidt verbrachte mehrere Wochen mit den Personen, bis sie sie fotografierte. Die Gesichter der Porträtierten sind jedoch nur in der Ausstellung zu sehen, auf der Webseite der Fotografin überdeckt sie die Gesichter mit weißen Feldern, um die Porträtierten zu schützen. Beide Arbeiten sind keine Bilder für die Tagespresse.

Die Protestfotografie aus den Siebzigern und von heute unterscheiden sich nicht in ihrer Intensität und Perspektive, sondern durch ihre Herangehensweise und ihre Funktion. Die Fotolib hatte den Anspruch, ich beziehe mich dabei auf die l'Agencé de Presse Libération, die als eigenständiger Fotodienst für die Tageszeitung Libération gegründet wurde, ein Bild soll in der Lage sein, eine Geschichte allein zu erzählen. Die heutige Protestfotografie hingegen orientiert sich vielmehr an formalen Konzepten. Und, in den Siebzigern funktionierten die Bilder als Beweis einer Gegenöffentlichkeit. Heute viel eher als Beweis einer Teilnahme am Protest.

Für mich stellt die Protestfotografie zweifellos ein eigenes Genre dar, das durch seine spezifischen Merkmale und Verwendungszwecke gekennzeichnet ist. Was ihr hierzulande fehlt, ist ein gemeinsames Archiv. In Polen existiert beispielsweise seit 2015 die Plattform A-P-P (Archive of Public Protest). Was sich dort ansammelt, ist enorm und hat eine erstaunliche Wucht. Die oft angeblitzten Demonstrierenden und der Blick für Ausschnitte, Objekte und Details erzeugen eine ganz eigene Bildsprache. Ich persönlich würde meine Bilder gerne auf einer solchen Plattform kostenlos veröffentlichen, was mich auch dazu motivieren würde, an mehr Kund- gebungen teilzunehmen und sie zu fotografieren. Die Bilder von Kurt Graf werden jedenfalls bereits aufgearbeitet. Lustigerweise übernimmt dies der Staat, der damals in den siebziger Jahren lieber Daten über Personen gesammelt hat, anstatt das wertvolle Bildmaterial der Bewegung zu archivieren. Warum nicht jetzt die Möglichkeit ergreifen und ein Archiv für Protestfotografie gründen, das der Protestfotografie eine permanente Sammlung bietet?

  fotograf